Das Wort »Utopie« liegt mir nicht; es heißt ja soviel wie »nirgends« – was nirgends passiert, ist uninteressant; jedenfalls uninteressanter als alles, was in Ost-Texas, Anatolien oder Sachsen passiert. Ich mag an Science Fiction, auch an derjenigen, die sich utopisch nennt oder als utopisch mißversteht (obwohl sie in Wirklichkeit ganz schön topisch ist), unter anderem, daß sie sagt: Dies ist nicht nirgends, dies ist übermorgen. Damit zwingt sie dazu, sich ganz anders für die gebotenen Schaustücke zu interessieren, als wenn es hieße: Mein Gedankenspiel hänge ich in den luftleeren Raum. Freilich gibt es, das Gesagte vorausgesetzt, schöne utopische Bücher, auch kluge: »Neu-Atlantis« von Bacon zum Beispiel, oder die drei »Golden Age«-Bände von John C. Wright. Aber die werden immer regiert vom vorausweisenden, prognostischen Zug, ihr eher atmosphärisches »Nirgendwo« ist im Grunde ein bißchen unaufrichtig, Scheineskapismus, verkappte Programmatik. »Übermorgen«: da bin ich als Mensch, der über die Konsequenzen des Gegebenen nachdenken kann, direkt zur Zustimmung oder zur Ablehnung aufgefordert: Stimmt das wirklich, gibt es die Keime für das, was da angeblich kommen soll, oder steckt vielleicht eine ganz falsche Analyse der Gegenwart dahinter?
»Dystopie« ist nicht nur eine häßliche, sperrige Wortquetschung, sondern die damit gemeinte Schreibmanier scheint mir auch die blödeste unter allen spekulativen zu sein. Die Utopisten geben ihre Naivität wenigstens zu, sie führen uns ins Häschenland und sagen: Ist es nicht schön hier? Das mag treudoof sein, aber es berührt doch als immerhin tendenziell menschenfreundlich. Die Warner und Abschrecker dagegen wollen zwar partout so faul sein, sich die künftige Welt als eine eindeutige, nicht mehr widersprüchliche vorstellen zu dürfen, genau wie die Utopisten, bei denen alles eitel Sonnenschein ist, aber im Gegensatz zu jenen möchten die Dystopiker bei ihrer infantilen Beschäftigung auch noch für mordsmäßig intelligent gelten. Also malen sie alles in grauenhaften Farben, weil ja der liebste Aberglaube des Feld-, Wald- und Wiesenintellektuellen gewohnheitsmäßig derjenige ist, Meckern und Jammern wären allemal tauglicher zum Beweis von Geist als Schwärmen und Sichfreuen. Stimmt natürlich nicht. Die Frage ist doch: Wird intelligent gemeckert, intelligent geschwärmt, oder töricht?
Weil ich relativ klare Vorstellungen davon habe, wie ich die gesellschaftliche Welt gern hätte (Stichwort: Sozialismus), hat mich ein lieber Österreicher neulich in bester Absicht als »Optimisten« beschimpft. Da steckt ein aufschlußreicher Denkfehler drin: Wer sagt, ich hätte gern was Leckeres zum Abendessen, sagt damit natürlich nicht, daß er glaubt, er bekäme es auch. Ich vermute, es wird alles immer besser und immer schlechter, je nachdem. Dementsprechend ist in der Geschichte, die das Buch »Die Abschaffung der Arten« erzählt, einiges besser und einiges schlechter als jetzt.
Wo es sich in einem spekulativen Text so verhält, muß man beim Lesen ein bißchen mehr mitbringen und leisten als da, wo nur gejubelt oder gedroht wird. Es stellt sich die Frage: Halte ich die Vorteile der Welt, von welcher der Autor lügt, sie werde in 500 Jahren die gegebene sein, für groß genug, daß ich mich, wenn ich sie bewohnen müßte, mit den Nachteilen abfinden könnte?
Das ist ein Denken in Kategorien wie zwar-aber, einerseits-andererseits, Kritik und Konstruktion, kurz, ein dialektisches Denken. Ich finde, das macht im Kopf mehr Bewegung und mithin mehr Spaß (»Funktionslust« sagen die Psychoanalytiker) als stundenlanges Nicken oder Kopfschütteln.